»Das letzte Mal musste Fintan zu Hause bleiben. Nun bist du dran.« Wenig später brachen die Männer auf.

* * *

Es war einer dieser warmen Septembertage, an denen sich ein weiter blauer, wolkenloser Himmel über die Berge spannte und der große Hang sich bis in die Ebene hinunter erstreckte, ehe er sich im Dunst verlor. Eine Spur von Rauch lag in der Luft.

Nachdem sie ihre Hausarbeit erledigt hatte, ging Eva in den kleinen Obstgarten, klaubte die heruntergefallenen Äpfel auf und trug sie in den Lagerraum. Maurice kümmerte sich um das Vieh. Die Herde war vom Berg heruntergekommen und graste nun. Ein alter Viehhirte, Seamus’ Frau und ihre kleinen Kinder halfen ihm. Ein Stalljunge und drei Frauen, die im Haus arbeiteten, Vater Donal mit seiner Familie und der alte Barde waren ansonsten die einzigen Leute an diesem Tag in Rathconan.

Am Nachmittag saß Eva im Obstgarten und fragte sich gerade, was Sean wohl tat, als sie ein Rufen hörte. Maurice rannte auf sie zu, gefolgt von Vater Donal und dem alten Barden.

»Truppen!«, rief Maurice. »Butlers Männer. Sie kommen das Tal hinauf.«

Kurz darauf sah sie eine Gruppe von Männern, manche zu Pferde, andere zu Fuß, auf Rathconan zukommen. Sie waren höchstens noch zwei Meilen entfernt.

»Ich habe unsere Pferde gleich bereit«, sagte ihr Maurice. »Dann müssen wir in die Berge reiten.«

»Aber sie werden unser Vieh stehlen«, meinte Eva.

»Ich weiß.« Der Junge sah darüber nicht sehr glücklich aus. »Aber so sind die Anordnungen deines Mannes.« Er schwieg einen kurzen Moment. »Vielleicht können wir dich und die Frauen an einen sicheren Ort bringen, Vater Donal bleibt dann bei Euch, und die Männer und ich…«

Es waren etwa zwanzig bewaffnete Männer, die auf das Gehöft zuritten. Schlug dieser tapfere, hübsche Junge wirklich vor, sie mit Unterstützung des alten Hirten, des Stalljungen und des Barden aufhalten zu wollen? »Nein«, sagte sie. »Wir bleiben alle zusammen.« Aber es war schrecklich, das Haus und die Herde den Angreifern überlassen zu müssen.

Das Vieh bedeutete ihnen Wohlstand, Lebensunterhalt und gesellschaftliche Stellung. Tief in ihrem Inneren – Generationen ihrer Vorväter waren Viehzüchter – stieg Zorn auf. Sean hatte die Herde allein gelassen, doch Eva wollte wenigstens einige Tiere retten. Könnte sie die Herde vielleicht teilen und einige Kühe verstecken? Und plötzlich erinnerte sich Eva an etwas, das sie in ihrer Kindheit gesehen hatte, und ihr kam eine Idee. Sie war gewagt und gefährlich. Und Geschicklichkeit war auch gefordert. Eva sah Maurice Fitzgerald an.

»Willst du mit mir etwas versuchen?«, fragte sie ihn. »Es ist riskant, und wenn es nicht klappt, bringen sie uns womöglich um.« Dann erklärte sie ihm, was getan werden müsste.

Wie merkwürdig, dachte sie, während sie sein Gesicht beobachtete. Kurz zuvor hatte der hübsche, dunkelhaarige Junge, zerrissen zwischen seinem Wunsch, etwas zu unternehmen, und seiner Pflicht, Seans Anweisungen zu folgen, noch ängstlich gewirkt. Doch jetzt, als er ihrem Vorschlag lauschte, der sie alle das Leben kosten könnte, sah er ganz entspannt aus. Seine Augen leuchteten auf. Ein Gesichtsausdruck, den sie ein, zwei Mal bei ihrem Mann in seiner Jugend gesehen hatte, zeigte sich plötzlich in Maurices Zügen – ein Blick, der verwegene Aufgeregtheit ausdrückte. Ja, dachte sie, diese Fitzgeralds waren richtige Iren.

»Hör zu«, sagte sie. »Ich sage dir jetzt, was wir tun müssen.«

* * *

Während der Stoßtrupp sich Rathconan näherte, befanden sich Sean O’Byrne und seine Männer hoch in den Bergen und weit im Süden. Die Gruppe bestand aus elf Reitern. Alle waren bewaffnet, auch Fintan.

Sie würden bei Dunkelheit angreifen und den Überraschungseffekt auf ihrer Seite haben; es gab ein genau abgestecktes Ziel; und es war sehr gut möglich, dass ihre Beute nur von zwei, drei Männern begleitet würde. Die Hauptsache war, vor Einbruch der Dunkelheit den richtigen Ort für einen Hinterhalt zu finden und den Pferden eine Erholungspause zu gönnen. Er dachte an ein bestimmtes beschauliches Fleckchen an der Straße nach Dalkey, das von Bäumen geschützt war.

Es hatte Sean schon sehr überrascht, als Margaret Walsh plötzlich bei ihm aufgetaucht war. Er konnte sich nur daran erinnern, wie sie damals verängstigt dagestanden hatte, als er ihrem Mann, dem Anwalt, den Eid abgetrotzt hatte; doch damals hatte er auf sie nicht so sehr geachtet. Nun war sie zu ihm gekommen mit dem Vorschlag, er solle die Frau des Ratsherrn entführen. Warum sie so etwas tue, hatte er sie gefragt. Weil sie ihre Gründe habe, war ihre Antwort. Mehr hatte sie nicht verraten wollen. Aber um einen solchen Schritt zu unternehmen, musste sie Doyles Frau sehr hassen, hatte er sich gedacht. Warum befehden sich Frauen? Normalerweise wegen eines Mannes. Man könnte meinen, sie wäre eigentlich ein bisschen zu alt dafür, grübelte er; doch vielleicht war eine Frau nie zu alt, um eifersüchtig zu sein. Was auch immer ihre Gründe waren, sein Lohn könnte jedenfalls hoch ausfallen. Und das war es, was Sean O’Byrne reizte.

Der Handel, den er mit Margaret Walsh geschlossen hatte, war ganz einfach. Er sollte Dame Doyle gefangen nehmen und als Geisel festhalten. Zwar hatte Silken Thomas der Frau des Ratsherrn sicheres Geleit aus der Stadt heraus zugesichert, doch musste es sich nicht unbedingt über die Vorstädte hinaus erstrecken. Auf der freien Strecke nach Dalkey wäre sie auf sich gestellt, und Lord Thomas Fitzgerald würde sich sicherlich nur wenig darum kümmern, was ihr dort zustoßen würde. Hätte O’Byrne erst einmal das Lösegeld vom Ratsherrn erhalten, würde er heimlich die Hälfte Margaret zustecken. Äußerst heimlich. Niemand – weder seine Familie noch Margarets Mann – durfte wissen, dass sie irgendetwas mit der Sache zu tun hatte; und ihre Forderung nach der Hälfte des Geldes war angemessen. Sie hatte ihn auf die Idee gebracht und ihm gesagt, wann und wo Dame Doyle reisen würde. O’Byrne hatte dem Handel auf der Stelle zugestimmt.

Eine einzige Sache hatte er jedoch noch nicht entschieden. Wie viel Geld sollte er fordern? Ihm war klar, dass es eine beträchtliche Summe sein würde – vielleicht mehr Geld, als er je in seinem ganzen Leben gesehen hatte. Obwohl er den Wert eines jeden Rinds innerhalb oder außerhalb des Pale genauestem kannte, hatte er keine Vorstellung vom Preis einer Ehefrau eines Dubliner Ratsherrn.

»Sobald Ihr sie gefangen habt, sage ich Euch, wie viel Ihr fordern könnt«, hatte Walshes Frau gemeint. Sean O’Byrne war bereit anzuerkennen, dass die Frau des Rechtsanwalts es wohl am besten wissen müsste. »Aber was, wenn wir den geforderten Preis nicht bekommen?«, hatte er gefragt. »Was, wenn sie nicht bezahlen?«

Margaret Walsh hatte ihm ein grimmiges Lächeln zugeworfen.

»Dann tötet Ihr sie.«

* * *

Sie kamen langsam den Hang hoch, ließen sich Zeit. Es waren zwanzig: zehn zu Pferde, zehn zu Fuß. Sechs Fußsoldaten waren so genannte kerne, einfache irische Männer vom Lande, die man eingezogen hatte und die für Geld kämpften. Doch vier gehörten zu den Furcht erregenden gallowglasses, schottische Söldner, die mit ihren langstieligen Äxten und zweischneidigen Schwertern auch die am besten ausgebildeten Waffenmänner niederstachen.

Sie waren schon an Seamus’ Haus gewesen und hatten es leer vorgefunden. Eva war gespannt, ob sie es anzünden würden, doch damit hatten sie sich nicht aufgehalten. Allmählich näherten sie sich ihrem Haus.

Wenn die Soldaten glaubten, das Haus würde verteidigt, würden sie sich verteilen und in Deckung gehen. Doch selbst von weitem war deutlich zu sehen, dass das Haus in aller Eile verlassen worden war. Die Tür stand sperrangelweit offen; ein Fensterladen schlug im Wind, knarzte und knallte. Daher blieben die Soldaten zusammen.

Das Terrain unterhalb des Hauses war auf der einen Seite von einer Baumgruppe und auf der anderen Seite von einer niedrigen Mauer begrenzt. Es war ein sanft abfallendes Gelände. Die Reiter waren etwa noch hundert Yards vom Haus entfernt, als Vater Donal, der sich hinter den Bäumen versteckt hielt, das Zeichen gab.

Plötzlich donnerten die Hufe. Der Lärm schien von zwei Seiten gleichzeitig zu kommen, so dass der Stoßtrupp einen Augenblick verwirrt innehielt und hin und her schaute. Und dann sahen die Männer voll Entsetzen, was es war.

Die zwei Viehherden preschten von beiden Seiten um das Turmhaus herum. Sie liefen schon ziemlich schnell, und als sie sich hinter dem Turm vereinten, wurden sie eine einzige Masse gehörnter Köpfe, hinter denen die Reiter schrien, brüllten und mit Peitschen knallten, so dass sie in wilde Panik ausbrachen. Ein–, zwei–, dreihundert Rindviecher stampften donnernd den seichten Abhang hinunter, ein Wall aus Hörnern, ein immenses Gewicht, jeweils zwölf Tiere nebeneinander, hielten unaufhaltsam auf die Soldaten zu. Die Männer sahen sich nach einem Fluchtweg um. Es gab keinen. Die gewaltige Herde füllte den gesamten Raum zwischen den Bäumen und der Mauer, und sie hätten ohnehin nicht die Zeit gehabt, die eine oder andere Seite zu erreichen. Sie machten kehrt, wollten fliehen, doch die Herde war bereits bei ihnen. Es gab einen Knall, ein Krachen, ein schreckliches Getöse.

Eva, die mit ihrem Pferd bei den Bäumen stand, sah, wie die galoppierende Wand aus Vieh in die Männer hineinraste. Sie sah ein Schwert durch die Luft fliegen, hörte einen Schrei und das Wiehern der Pferde; und dann nur noch die wallende Wand aus Vieh, wie ein Fluss bei Hochwasser. Hinter sich, ebenfalls zu Pferde, hörte sie den alten Barden wie ein aufgeregtes Kind jauchzen und lachen; und drüben auf der anderen Seite nahe der Mauer konnte sie Maurice mit hoch angespanntem Gesicht und leicht geröteten Wangen sehen, der mitten in die Herde hineinritt. Wie schön er aussah, wie unerschrocken er war. Einen Moment lang nur wusste sie, dass sie halb in ihn verliebt war. Vielleicht war sie in all der hitzigen Aufregung wieder zur jungen Frau geworden; und in der herrlichen Illusion des Augenblicks kam es ihr so vor, als verkörpere der junge Aristokrat das, was ihr Mann in den Jahren ihrer Jugend vielleicht hätte sein können, wenn er eleganter gewesen wäre.

Die Rinder waren jetzt über die Angreifer hinweggestürmt und donnerten nun den Hang hinab. Maurice bahnte sich einen Weg zu ihnen und bewegte sie geschickt zum Umkehren. Hinten, wo der Stoßtrupp gewesen war, bot sich ein Gemetzel.

Wären die Männer zu Pferde schneller gewesen, hätten sie nicht gezögert, sondern auf der Stelle kehrtgemacht, dann hätten sie vielleicht eine Chance gehabt. Einige Reiter hatten es versucht, doch zu spät, sie waren entweder mit ihresgleichen oder mit den Fußsoldaten zusammengeprallt. Die gewaltige Kraft der Herde war auf die Pferde getroffen oder hatte sie von hinten überrannt, sie zu Fall gebracht und dann in die Erde getrampelt. Von den Fußsoldaten war noch weniger übrig geblieben. Egal ob Männer zu Pferde, einfache kerne oder mächtige gallowglasses: die Herde war über sie alle hinweggestürmt. Arme, Beine, Schädel und Brustbeine waren gebrochen und zerschmettert, die Körper zerfetzt oder zu Brei getreten. Die großen Äxte der gallowglasses lagen da mit zerborstenem Schaft, ihre Schneiden nutzlos.

Das Vieh in Panik zu versetzen war eine irische Strategie, die so alt war wie die Berge. Ein einziges Mal hatte Eva in ihrer Kindheit beobachtet, wie sie angewandt wurde, aber sie hatte es nie vergessen; und da alle in Rathconan wussten, wie man Vieh treibt, war es für sie nicht allzu schwierig gewesen, auch wenn sie nur so wenige waren, eine Herde von dreihundert Tieren in wilder Flucht davonstürmen zu lassen.

Nun kam Seamus’ Frau herüber. Sie hatte die Tiere von hinten angetrieben. Auch die Frauen aus dem Haus kamen und betrachteten die Soldaten; die meisten waren bereits tot. Andere stöhnten. Einer der großen Söldner versuchte gar, auf die Füße zu kommen. Die Frauen wussten, was zu tun war. Auf ein Nicken von Eva zogen sie ihre Messer, gingen von Mann zu Mann und schnitten ihnen die Kehle durch. Eva stieg ab und tat dasselbe mit den bedauernswerten Pferden. Es war eine blutige Angelegenheit, doch sie war siegestrunken; sie hatte alle gerettet. Und als Maurice gerade in dem Moment zurückkam, als sie fertig war, warf auch er ihr einen Blick voll Triumph, Liebe und Freude zu.

* * *

Kurz vor Einsetzen der Abenddämmerung hatte Sean O’Byrne den Ort gefunden, den er gesucht hatte. Die Männer waren sorgfältig postiert. Fintan und er würden vorpreschen und geradewegs auf Dame Doyle zuhalten, während die anderen, von Seamus angeführt, ihre Begleiter abdrängen sollten. Er hatte seine Männer angewiesen, nur mit der flachen Seite ihres Schwerts zuzuschlagen, es sei denn, sie träfen auf ernsthaften Widerstand. Mit Glück könnten sie ihre Aufgabe erfüllen, ohne jemanden töten zu müssen. Vor allem um MacGowan machte er sich Sorgen. Walshes Frau hatte versichert, dass der Grauhändler Dame Doyle nach Dalkey geleiten würde, und O’Byrne konnte sich nicht vorstellen, dass er sie kampflos hergeben würde. Er mochte MacGowan, und es täte ihm Leid, ihn zu verletzen; doch im Zweifelsfall könnte er daran nichts ändern. Das Spiel hatte seine Regeln; das Übrige war dem Schicksal überlassen.

Es war dunkel geworden. Der Halbmond warf ein fahles Licht durch die Bäume auf die Straße. Die Zeit verging, und noch immer keine Spur von ihnen. Sean wartete weiterhin geduldig. Vielleicht hatten sie sich verspätet. Eine weitere Stunde verstrich, und allmählich bekam er Zweifel, als er plötzlich etwas hörte. Schritte. Sogar recht viele. Das war sonderbar. Er hatte vermutet, die Gruppe käme zu Pferde. Er raunte seinen Männern zu, sich bereitzuhalten. Er hörte, wie sie aufsaßen. Er spürte, wie sein Körper sich erwartungsvoll spannte. Dann sah er im Mondlicht die Gruppe um die Wegkrümmung kommen.

Es waren nur zwei Reiter: MacGowan und die Frau ritten vorweg. Zwanzig Mann marschierten hinter ihnen her. Sie waren eine bunte Mischung: bewaffnete Städter, normale Soldaten; sogar Brennan, mit einer langen Pike bewaffnet, war darunter. Doch vor allem die acht Männer, die vorwegmarschierten, erregten seine Aufmerksamkeit. Er starrte sie ungläubig an. Gallowglasses. Sie hatten riesige Äxte und Schwerter um die Schulter gehängt. MacGowan musste sie angeheuert haben. O’Byrne fluchte leise und zögerte.

Sollten sie dennoch angreifen? Zahlenmäßig waren sie ungefähr gleich stark, doch jeder gallowglass wog zwei oder drei seiner ungeübten Männer auf. Er wollte kein Risiko eingehen.

Er spürte einen Rippenstoß. Fintan.

»Reiten wir denn nicht los?«, flüsterte der Junge.

»Gallowglasses«, raunte er zurück.

»Aber sie sind doch zu Fuß. Wir können zwischen ihnen hin und wieder zurückreiten, die kriegen uns nie.« Das klang vernünftig. Er verstand genau, was sein Sohn dachte. Doch Fintan begriff nicht. Sean schüttelte den Kopf.

»Nein.«

»Aber Vater…« Darin war nicht nur eine Spur Enttäuschung, sondern sogar ein Vorwurf. Wie konnte sein Vater ein solcher Feigling sein.

»Sieh her.«

Sean konnte kaum glauben, was nun geschah: Fintan gab seinem Pferd die Sporen, brach aus der Deckung hervor und preschte im Mondlicht auf die Soldaten zu. Da sie dachten, das Zeichen wäre gegeben worden, brachen auch Seamus und die übrigen Männer hervor. MacGowan und die Frau waren stehen geblieben. Die gallowglasses hatten rasch einen Schutzring um sie gebildet. Es war zu spät. Sean blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls loszugaloppieren. Er stürmte auf die schottischen Söldner zu, um seinem Sohn zu helfen. Vielleicht hatte der Junge ja Recht.

* * *

Es waren nur einige Stunden vergangen, doch schon schien ihr Kampf mit den gallowglasses eine Ewigkeit zurückzuliegen, so als habe er in einer anderen Welt stattgefunden. Das war das Merkwürdige an einem Gefecht. Er erinnerte sich nicht nur an den Kampf, sondern auch an das Bild, wie Fintan, nachdem er MacGowan vom Pferd gestoßen hatte, die Arme ausstreckte und versuchte, Dame Doyle zu greifen; und dann an das Gefühl, wie der Junge ganz nah neben ihm dahinfegte, als sie alle hastig davongaloppierten. Sie hatten vier Männer auf der Straße bei den schottischen Söldnern zuriicklassen müssen. Selbst im Mondlicht hatte er an ihren Wunden erkennen können, dass sie bereits tot waren oder im Sterben lagen. Er erinnerte sich, wie sie den Hang hinaufgejagt waren, mit den wilden Flüchen der gallowglasses im Rücken, wie Seamus zu ihm aufgeschlossen und Fintan für seine Verwegenheit freundlich angelächelt hatte. Dann war Fintan in sich zusammengesackt.

Die Sterne verblassten allmählich, als sie die dunklen Konturen der Berggipfel hinter sich ließen und den langsamen Abstieg nach Rathconan begannen.

Und im Osten über dem Meer stieg bereits die Sonne auf, in deren grellem Licht die Hänge und Felsspalten der Wicklow–Berge aufleuchteten, als Sean O’Byrne und seine Leute das Haus erblickten. Lange bevor sie es erreichten, waren Eva, Maurice und der alte Vater Donal schon mit breitem Lächeln vor die Tür getreten, bis sie sahen, dass die Männer keine Trophäe, keine Gefangenen, sondern nur ein Bündel mitbrachten, in eine Decke gewickelt und an sein Pferd gebunden: Fintan. Er war in den Bergen an der tiefen Wunde, die Sean erst nicht bemerkt hatte, verblutet; sie rührte nicht von einem großen zweischneidigen Schwert der Schotten, sondern von Brennans langem Speer, der wie eine dunkle Spitze Fintans Rippen durchstoßen hatte, als er nach Joan Doyle greifen wollte.

* * *

Am späten Vormittag desselben Tages ritt Margaret zum Treffpunkt oben in den Bergen, wo Sean O’Byrne ihr die Neuigkeiten von der Unternehmung in der vorigen Nacht berichten wollte. Sie wartete den halben Nachmittag, doch er kam nicht. Sie war schon fast versucht, hinunter nach Rathconan zu reiten, kam dann aber zu dem Schluss, das Risiko sei zu groß. Gegen Abend war sie froh, dass sie es nicht getan hatte.

Richard Walsh war an diesem Morgen allein nach Dublin gefahren. Am Abend kehrte er mit der Nachricht zurück, Dame Doyle sei in der Nähe von Dalkey angegriffen worden. »Doch zum Glück konnte sie entkommen.« Vier der Angreifer seien getötet worden. »Es sieht so aus, als wären sie aus der Gegend von Rathconan gekommen. Es heißt, Sean O’Byrne sei in die Sache verwickelt.« MacGowan sei von seinem Pferd gestoßen worden, doch ihm sei nicht viel passiert.

»Du sagst, Dame Doyle ist nun sicher in Dalkey angekommen?«, fragte Margaret.

»Ja, Gott sei Dank.«

»Was werden sie mit O’Byrne machen?«, erkundigte sie sich.

»Vermutlich nichts. Doyle sitzt in der Burg fest. Lord Thomas kümmert es nicht. Und O’Byrnes Söhne hat es ohnehin am schlechtesten getroffen.«

Nach alldem schien es ihr nicht besonders sinnvoll, O’Byrne aufzusuchen.

Einige Tage später kam MacGowan zu Besuch. Wie immer freute sich der Anwalt, ihn zu sehen, und meinte heiter, dafür, dass er gerade erst ein Gefecht hinter sich gebracht hatte, sehe er nicht so übel aus. Und MacGowan schien dankbar zu sein, sich ein wenig ausruhen und einen Schluck Wein trinken zu können. Als sie sich in die Halle setzten, wirkte er müde.

»Ich komme gerade von Sean O’Byrne wegen der Ereignisse letztens in der Nacht«, sagte er matt. »Ich war bei der Totenwache seines Sohnes.«

»Seines Sohnes?« Margaret schaute überrascht auf. »Er hat einen Sohn verloren?«

»Ja. Fintan. Letztens in der Nacht. Es war eine traurige Totenwache. Eine schreckliche Sache.«

»Aber…« Voll Verwunderung sah sie ihn an, als ihr die eigentliche Bedeutung dieser Nachricht klar wurde. »Die Männer, die Ihr angeheuert habt, müssen ihn getötet haben.«

»Daran besteht kein Zweifel.«

»Es überrascht mich, dass Ihr dann zu der Totenwache gegangen seid«, sagte sie.

»Ich bin aus Respekt vor seinem Vater hingegangen«, antwortete MacGowan leise. »Sein Tod ist nicht mein Verschulden, und das wissen die O’Byrnes. Was geschehen ist, ist geschehen.«

Sie schwieg. MacGowan schloss die Augen.

»Hat er Euch erzählt, woher er wusste, dass Dame Doyle nach Dalkey unterwegs sein würde?«, fragte Walsh. »Darüber zerbreche ich mir nämlich den Kopf.«

»Nein, hat er nicht.« MacGowan hielt die Augen noch immer geschlossen.

»Ich weiß, in Dublin bleibt nichts ein Geheimnis«, bemerkte der Anwalt. »Ich muss also daraus schließen, dass, als ich um sicheres Geleit bat, einer von Lord Thomas’ Männern den Hinterhalt geplant haben muss.«

»Sie kennen O’Byrne«, meinte MacGowan. »Wer auch immer ihm die Information zugesteckt hat, ist für den Tod des jungen Fintan O’Byrne verantwortlich.« Und nun starrte er Margaret unverwandt an, anklagend, allwissend.

Sie hielt dem Blick stand. Was wusste er wirklich? Hatte O’Byrne etwas verraten? Und wenn MacGowan es wusste, hatte er die Absicht, es ihrem Mann oder den Doyles zu sagen? Sie bemühte sich, ruhig zu bleiben und sich nicht zu entlarven. Doch sie spürte nur kaltes, furchtbares Grauen. Sie wandte ihren Blick ab.

Langsam erhob sich MacGowan.

»Ich muss mich auf den Weg machen. Ich danke Euch für die Gastfreundschaft«, sagte er zu Walsh. Zu Margaret sagte er nichts. Sie bedauerte es nicht, dass er ging.

Doch wenn sie meinte, ihre Drangsal hätte damit ein Ende, so täuschte sie sich.

Etwa eine Stunde später, nachdem sie einige Dinge erledigt hatte, kam ihr Mann in die Halle, wo sie alleine saß. Da sie über das unangenehme Gespräch mit MacGowan grübelte, hoffte sie dankbar, dass er ihre dunklen Gedanken zerstreuen würde, und drehte sich ihm mit einem hoffnungsvollen Lächeln zu, während er sich in den schweren Eichenstuhl am Tisch setzte. Auch er schien etwas auf dem Herzen zu haben, da er erst einmal nachdenklich schwieg, ehe er ansetzte.

»Es ist gut, weißt du, dass Joan Doyle letztens nachts nichts geschehen ist. Ich meine, auch für uns als Familie.«

»Oh.« Sie spürte, wie ihr kurz der Atem stockte, da er so ohne Umschweife auf Joan Doyle zu sprechen kam. »Warum?«

»Weil…«, er zögerte. »Es gibt etwas, das ich dir nie erzählt habe.«

Da war es also endlich. Sie spürte, wie ihr kalt wurde, und sie hatte das Gefühl, jeden Augenblick zu Boden zu fallen. Wollte sie es wirklich hören? Etwas in ihr wollte ihn aufhalten. Ihre Kehle war trocken.

»Was?«

»Letztes Jahr an Fronleichnam habe ich mir von ihr eine große Summe Geld geliehen.«

»An Fronleichnam?« Sie starrte ihn an.

»Ja. Du wirst dich daran erinnern«, fuhr er rasch fort, »dass Richards Studien in London uns sehr viel Geld gekostet haben. Ich war in Geldverlegenheit, habe mir Sorgen gemacht. Mehr als ich dir zeigen wollte. Eines Tages traf ich unseren Freund MacGowan in Dublin, der sah, wie bedrückt ich war. Er meinte, sie könne mir vielleicht helfen. Also ging ich wegen eines Darlehens zu ihr.«

»Sie selbst gibt Darlehen? Ohne ihren Mann?«

»Ja. Du weißt doch, dass unsere Dubliner Frauen sogar mehr Freiheiten genießen als die Frauen in London. Ich habe erfahren, dass sie nur sehr wenige Darlehen gibt. In der Regel konsultiert sie den Ratsherrn, aber nicht immer. Da ich mich geniert habe, hat sie mir in meinem Fall das Geld heimlich geliehen. Natürlich gibt es, wie es sich gehört, eine förmliche Vereinbarung. Doch soviel ich weiß, ist es ein Geheimnis zwischen Dame Doyle und mir.«

Er schwieg. Dann lachte er scheu. »Weißt du, warum sie mir das Geld geliehen hat? Sie hat sich an Richard erinnert. Damals als sie in diesem Haus Schutz gesucht hat. ›Er ist ein netter Junge‹, hat sie gesagt.›Ihm muss geholfen werden.‹ Und sie hat mir das Geld geliehen. Und dazu noch zu sehr günstigen Bedingungen.«

»An Fronleichnam?«

»Da bin ich zu ihr gegangen. Sie war ganz allein, abgesehen von einem alten Diener. Die anderen waren aus dem Haus gegangen, um sich die Theaterstücke anzusehen. Und sie hat mir das Geld sofort gegeben.«

»Wann muss es zurückgezahlt werden?«

»Es war nach einem Jahr fällig. Ich dachte, ich könnte es schaffen. Doch nachdem wir das Kirchenland verloren hatten… Sie hat mir drei weitere Jahre zugestanden. Zu großzügigen Bedingungen.«

»Aber ihr Mann hat doch unser Land bekommen.«

»Ich weiß; Euer Verlust ist unser Gewinns« sagte sie zu mir. »Nach dieser Sache kann ich Euch doch nicht abschlagen, die Leihfrist zu verlängern.«  Er schüttelte den Kopf. »Sie hat uns – oder mich, wenn du willst – ungewöhnlich gut behandelt. Mein Vergehen, Margaret, ist, dass ich es dir aus Scham verheimlicht habe. Wenn sie letztens in der Nacht getötet worden wäre, hätte man den Leihvertrag bei ihren Unterlagen gefunden, und Doyle wäre vielleicht wegen des Geldes gekommen. Ich weiß es nicht.« Er seufzte. »Es war ohnehin an der Zeit, dass ich es dir erzähle. Kannst du mir verzeihen?«

Margaret sah ihn an. War das die ganze Wahrheit? Sie hatte keinen Zweifel an diesem Darlehen. Wenn ihr Mann sagte, es gebe ein Darlehen, dann gab es ein Darlehen. Die Geschichte mit Fronleichnam stimmte wahrscheinlich auch. Aber war da noch etwas anderes als ihre Freundlichkeit und Zuneigung für Richard? War da nicht doch etwas zwischen dieser Frau, deren Verachtung sie immer zu spüren bekommen hatte, und ihrem Mann?

Falls da wirklich nichts war, hätte sie wegen nichts Sean O’Byrne beauftragt, sie anzugreifen, und auch wegen nichts den Tod seines Jungen herbeigeführt.

»Lieber Gott«, sagte sie mit jähen Zweifeln. »Oh, lieber Gott.«

* * *

Der September brachte für Cecily eine neue und unangenehme Entscheidung. Zwei Tage, nachdem MacGowan von Fintan O’Byrnes Totenwache zurückgekehrt war, änderte die Stadt ihre Meinung. Vielleicht lag es an den immer hartnäckigeren Nachrichten, dass bald ein englisches Heer eintreffe, oder daran, dass die Bürger es leid waren, Fitzgeralds Truppen Quartier zu bieten, oder an einer Einschätzung der Ratsmitglieder, Silken Thomas’ Regierung fehle es an Überzeugungskraft; aus welchen Gründen auch immer, jedenfalls fiel die Stadt um.

Das Erste, was Cecily wahrnahm, war der verängstigte Blick einer ihrer Töchter, die die Turmtreppen hinaufrannten. Dann hörte sie Schüsse und Rufe von der Straße. Beim Blick aus dem Fenster sah sie eine Gruppe von Fitzgeralds gallowglasses, die eilig durch das Westtor das Feld räumten. Eine große wütende Menschenmenge, bewaffnet mit Speeren, Schwertern, Äxten, Stöcken – mit allem, was sie gerade zu fassen bekommen hatte –, folgte ihnen dicht auf den Fersen und drängte sie zum Tor hinaus. Dutzende von Fitzgeralds Männern wurden gefangen und getötet. Auch wenn Silken Thomas sich anbot, die eine wahre Kirche Irlands zu retten, schien sich die Menge darum nicht zu scheren. »Ketzer«, brüllte sie ihm und seinen Getreuen nach. Silken Thomas befand sich nun wieder außerhalb von Dublin, und obgleich er die Stadt erneut belagerte, kam er nicht mehr in sie hinein. Innerhalb weniger Tage vereinbarten Silken Thomas und die Ratsherren eine sechswöchige Waffenruhe. »Er wird uns schon nicht angreifen«, meinten die Dubliner. »Er wartet ab und greift die Engländer an.«

Diese Pattsituation hatte eine weitere Auswirkung. Die Dubliner Burg öffnete ihre Tore, und Henry Tidy kam nach Hause.

Es war ein Jammer, dass eines der Kinder kurz vor seiner Heimkehr einen Milchkrug umgestoßen hatte und Cecily nicht gut gelaunt war. Sie hatte so lange auf diesen Tag gewartet. Immer wieder hatte sie in der Zeit, während ihr Mann in der Burg war, über den Moment seiner Rückkehr nachgedacht. Was genau wollte sie? Als sie ihre Kinder ansah und sich an die Anfänge ihrer Ehe erinnerte, wusste sie es. Sie sehnte sich danach, die Warmherzigkeit ihres Ehelebens wieder aufleben zu lassen. Ihre religiösen Ansichten konnte sie nicht ändern. Das war unmöglich. Und sie glaubte auch nicht, dass ihr Mann seine Haltung ändern konnte. Aber es könnte ihnen sicherlich gelingen, friedlich zusammenzuleben.

Nur freundlich müsste er sein. Als er sie an diesem schrecklichen Tag geschlagen hatte, hatte sie nicht allein die Ohrfeige geschmerzt – obgleich sie darüber schockiert war –, sondern vor allem die Kälte, die sie dahinter gespürt hatte. Und in ihr war etwas gestorben. Könnte es wieder zum Leben erweckt werden?

Sie brauchte die Bestätigung, dass er sie liebte. Wie auch immer ihre Ansichten über König Heinrich waren, wie sehr sie ihn auch vor Doyle und den Stadtbehörden blamiert hatte, sie wollte spüren, dass er sie aufrichtig liebte. Darauf würde sie bei seiner Rückkehr achten. Wie würde er sich verhalten? Was hätte es zu bedeuten? Könnte sie ihm vertrauen?

Darum war es ein Jammer, dass sie sich gerade in einem Anflug von Arger umdrehte, als er in der Tür erschien, und ihn nur kühl begrüßte.

»Du scheinst nicht sehr erfreut, mich zu sehen.«

Cecily sah ihn an. Sie wollte lächeln. Das hatte sie sich fest vorgenommen. Doch nun, da der Moment, auf den sie so lange gewartete hatte, gekommen war und ganz falsch angefangen hatte, fühlte sie sich seltsam gelähmt. Sie spürte, wie sich etwas in ihr zusammenzog.

»Du hast deine Familie allein gelassen«, entgegnete sie ihm frostig.

Würde er sich entschuldigen? Würde er den ersten Schritt lachen? Würde er sie beruhigen?

»Du hast dich geweigert, mit mir zu kommen, Cecily.«

Nein. Nicht ein Wort. Nichts hatte sich verändert.

»Es ist nicht mein Fehler, dass König Heinrich exkommuiziert wurde.«

»Ich bin immer noch dein Mann.«

Sie zuckte leicht mit den Schultern. »Und der Heilige Vater t noch immer der Heilige Vater.«

»Ich bin jedenfalls wieder da.« Er versuchte zu lächeln. »Du könntest mich willkommen heißen.«

»Warum denn?« Sie konnte die Bitterkeit in ihrer Stimme nicht unterdrücken. »Willst du denn etwa hier sein?«

Er starrte sie an. Was dachte er? Er denkt, was für eine alte, grausame Frau ich bin, dachte sie. Das habe ich mir zum Teil selbst zuzuschreiben.

»Nein.«

Da war es also. Er hatte die Wahrheit ausgesprochen. Aber war es wirklich die Wahrheit, oder schlug er nur zurück? Sie wartete, dass er noch etwas hinzufügte. Er tat es nicht.

»Wir haben uns nichts mehr zu sagen«, sagte sie mit einem Gefühl seltsamer Hilflosigkeit und stand wartend da, während die Kälte niedersank und sich leise zwischen sie legte.

Schon am nächsten Tag hatte die Familie Tidy eine neue Lebensform entwickelt. Die Werkstatt war im Erdgeschoss, dort arbeiteten und schliefen Tidy und der Lehrjunge. Im Stockwerk darüber war das Hauptzimmer, wo die Familie zusammen aß. Darüber, im Turm, schliefen Cecily und die Kinder. Von ihrem Fenster dort oben hatte Cecily den Blick auf einige Töpfereien, wo Geschirr hergestellt wurde.

Dieses Turmfenster wurde zu ihrem Refugium. Manchmal ging sie mitten am Tag hinauf, um allein zu sein und den Töpfern zuzusehen. Ab und zu sah sie sogar Fitzgeralds Männer in der Ferne. Und abends, wenn die Kinder im Bett lagen und sie abgeschieden von ihrem Mann war, saß sie hier stundenlang, betrachtete den Sonnenuntergang oder die Sterne und dachte über das Weltgeschehen nach.

Schon bald, nachdem sie ihre Nachtwachen aufgenommen hatte, wurde bekannt, dass Graf Kildare an seiner Krankheit in England gestorben war. Diese traurige Nachricht bedeutete auch, dass Silken Thomas nun der neue Graf war – mit allen Befugnissen und dem Ansehen, das dieser Name hervorrief. Es würde nun nicht mehr lange dauern, so hoffte sie, bis die Sache gewonnen sein würde. Mitte Oktober trafen endlich die englischen Schiffe ein. Doyle und die anderen Ratsherren hießen den Artilleristen mit seinen Männern in Dublin willkommen. Die englischen Truppen waren zahlenmäßig sehr stark und wirkten gut ausgebildet; sie brachten auch Artillerie mit. Cecily hatte gehofft, Silken Thomas würde sie in einem offenen Kampf vernichten, und sah stattdessen mit Abscheu, dass Teile von Thomas’ Truppen sich heimlich davonschlichen.

Innerhalb eines Monats rückte der Artillerist aus. Es hieß, er habe eine der Burgen zurückerobert, die Fitzgerald in Trim eingenommen hatte. Noch undurchsichtiger war die Nachricht, zwei von Thomas Fitzgeralds fünf Onkeln würden mit dem Artilleristen kooperieren.

Der Artillerist zog sich nach Dublin zurück und blieb dort. Und schon bald klagte er über Unwohlsein. Cecily sah ihn gelegentlich mit seiner Eskorte durch die Straßen reiten. Der ehemals forsche Militarist sah nun blass und hager aus. Auch seine Truppen litten. Es kam zu Desertionen. Silken Thomas saß jetzt wieder in den Festungen, die der Artillerist zuvor eingenommen hatte. Und am wichtigsten war, dass Cecily um Weihnachten herum hörte, die Spanier würden zehntausend bewaffnete Männer entsenden. Wären sie erst einmal da, würde der Artillerist verschwinden.

Der Januar war kalt und trübe. Die englischen Truppen zogen nun zu Schlüsselgarnisonen rund um den Pale; doch es tat sich nichts. Silken Thomas wartete noch immer auf die spanischen Soldaten, doch es traf nicht einmal eine Nachricht von ihnen ein. Als sie eines Tages im Februar im Hauptzimmer aßen, sagte Tidy zurückhaltend: »Du weißt, was die Leute sagen. Der spanische König habe andere Dinge, über die er nachdenken müsse. Er lasse Silken Thomas allein im Regen stehen.«

»Das sagst du«, entgegnete sie teilnahmslos. Es kam nicht oft vor, dass sie überhaupt miteinander sprachen.

»Gestern hat ein Schiff im Hafen angelegt«, fuhr er ruhig fort. »Aus Spanien. Es gibt keinerlei Anzeichen und keine Nachricht, dass Soldaten zu uns geschickt werden.«

»Die Feinde der Fitzgeralds können sagen, was sie wollen«, konterte sie.

»Es sind nicht ihre Feinde, die das sagen, sondern ihre Freunde.«

In dieser Nacht fiel Schnee. Als sie am Morgen aus ihrem Fenster in Richtung des Landesinneren blickte, sah sie nur eine trostlose weiße Stille.

Doch der wahre Schlag kam im März. Der Artillerist hatte sich dazu entschlossen, einen anständigen Feldzug zu starten. Unerschrocken war er nach Maynooth zur mächtigen Hochburg der Fitzgeralds gezogen. Trotz seiner Artillerie, so Cecilys Vorstellung, würde ihm die große Festung wochenlang standhalten. Doch im Handumdrehen kam die Nachricht.

»Maynooth ist gefallen.« Ihr Mann war zu ihr ins Turmrefugium gestiegen, um es ihr zu erzählen.

»Hat der Artillerist sie eingenommen?«

Er schüttelte den Kopf.

»Er wird natürlich behaupten, es wäre so gewesen«, sagte er. »Aber einige eigene Männer haben Fitzgerald verraten und die Engländer hineingelassen.« Dann ging er die Treppen wieder hinunter.

In dieser Nacht konnte sie nicht einschlafen und setzte sich wieder ans Fenster, um zu den funkelnden Sternen hinauszusehen, bis sie endlich verblassten und das kalte, grelle Morgengrauen sich im Osten zeigte.

Im April, als Silken Thomas schon auf der Flucht ins Moor war, besuchte Cecily Dame Doyle. Es fiel ihr nicht leicht, das Haus des Ratsherrn aufzusuchen, der so freudig zum ketzerischen König Heinrich VIII. hielt; doch seine Frau war anders, und sie vertraute ihr.

»So kann ich nicht mehr weiterleben«, sagte sie zu der älteren Frau. »Ich weiß nicht, was ich tun soll.« Und sie erzählte ihr alles, was sich zwischen ihr und Henry Tidy zugetragen hatte. Doch sollte sie Mitgefühl erwartet haben oder dass Dame Doyle sich gar anbot, zwischen ihnen zu vermitteln, so wurde sie enttäuscht.

»Ihr müsst wieder ein gemeinsames Leben mit Eurem Mann aufnehmen«, sagte ihr Dame Doyle schonungslos. »So einfach ist das. Auch wenn Ihr ihn nicht mehr liebt«, mahnte sie streng. Sie schaute Cecily nachdenklich an. »Könntet Ihr Euch dazu durchringen, ihn hinreichend zu lieben?«, fragte sie ganz offen.

Genau diese Frage hatte sich Cecily schon selbst gestellt.

»Das Problem ist, dass er mich wahrscheinlich nicht liebt«, gestand sie.

»Seid Ihr Euch da sicher?«

»Ich glaube es zumindest.«

»Vielleicht solltet Ihr die Zweifel zugunsten Eures Mannes auslegen«, sagte sie schon freundlicher. »Mit einer Ehe verhält es sich in gewisser Weise wie mit der Religion. Sie fordert einen aktiven Glauben.«

»Aber das ist doch nicht dasselbe«, protestierte Cecily. »Denn wenn es um den wahren Glauben geht, hege ich keinerlei Zweifel.«

»Zumindest könnt Ihr hoffen«, bemerkte Dame Doyle lächelnd. Und da Cecily noch immer unsicher dreinblickte: »Mein Kind, dann müsst Ihr auf die Nächstenliebe bauen, seid nett zu ihm. Vielleicht geht es dann besser.« Und scharfsinnig fügte sie noch an: »Im Übrigen habt Ihr doch selbst gesagt, so könne es nicht weitergehen. Tatsache ist doch, dass Ihr nichts zu verlieren habt.«

Nachdem sie die Kinder im Hauptzimmer schlafen gelegt hatte, stieg Cecily hinunter in die Werkstatt und schlug Tidy vor, er solle doch mit ihr in ihr Refugium kommen.

* * *

Der alte Mann traf an einem schönen Tag Ende August in Rathconan ein. Er sei ein Brehon, teilte er Eva mit, ein Mann, er die alten irischen Gesetze kenne, und Ratgeber der Fitzeralds in Munster. Er komme von Maurices Eltern mit einer Botschaft, die er nur dem Jungen selbst und Sean übermitteln dürfe. Da die beiden mit der Herde oben auf die Bergweiden gezogen waren, schickte Eva ihnen einen Mann hinterher, der sie holen sollte. Mit gebührendem Respekt für den alten Mann servierte sie ihm einen Krug Ale und Häppchen in der Halle, wo er, wie er sagte, sich gern ausruhen wolle. Bis zu Seans und Maurices Rückkehr konnte sie nur raten, welcher Natur die Aufgabe des Brehon war. Vielleicht betraf sie die Familie Fitzgerald. Als Silken Thomas von seiner Garnison verraten wurde und entkommen konnte, hatte er sich mit den irischen Anführern verbündet, die treu zu seiner Familie standen. Der Artillerist mochte zwar Festungen halten und einen Großteil der Artillerie zur Verfügung haben, aber er hatte nur einige hundert Soldaten, und er war nicht gesund. Die englischen Streitkräfte könnten zermürbt und vernichtet werden.

Der Artillerist hatte allerdings die Macht Englands hinter sich. Die irischen Anführer waren deshalb auf der Hut. Silken Thomas behauptete noch immer, die Spanier würden kommen; doch Wochen vergingen, und noch immer keine Spur von ihnen. Silken Thomas musste die bittere Lektion der Macht lernen: Deine Freunde sind die Leute, die an deinen Sieg glauben. »Wenigstens die Leute hier oben stehen loyal zu Fitzgerald«, hatte Eva einmal Sean gegenüber geäußert; doch er hatte nur gequält geguckt. »Manche O’Tooles und sogar unsere eigenen Verwandten, die O’Byrnes, führen mittlerweile Gespräche mit dem Artilleristen«, erzählte er. »Er bietet gutes Geld.« Im Hochsommer hielt sich Silken Thomas in den Wäldern und Mooren versteckt.

Obgleich der Artillerist nur im Schneckentempo vorrückte, verließ ihn allmählich der Mut. Und als vor einer Woche einer seiner adligen englischen Verwandten, ein königlicher Befehlshaber, ihn in seinem armseligen Lager im Sumpf von Allen aufgespürt, ihm zugesichert hatte, man ließe ihn am Leben, und ihm Vergebung versprochen hatte, falls er sich ergebe, hatte er sich einverstanden erklärt. Diese Neuigkeit war vor drei Tagen nach Rathconan gedrungen.

Obwohl es Eva nur schwer glauben konnte, schien nun also die Macht des mächtigen Hauses der Kildare zu schwinden wie Flötentöne, die hinter einem Berg verklingen. Und was bedeutete dies, falls Kildares Macht tatsächlich zusammengebrochen war, für die Desmond Fitzgeralds im Süden? Bestenfalls Unsicherheit. Vielleicht wollten die Fitzgeralds aus dem Süden, dass ihr Sohn Maurice wohlbehalten in den Schoß der Familie zurückkehre?

Sie hoffte nicht. Seit Fintans Tod war der junge Maurice eine große Stütze, er half Sean, und ihr schenkte er seine stille Zuneigung. Natürlich konnte man einen Pflegesohn nicht für immer in der Familie behalten, doch sie könnte es nicht verwinden, sich jetzt von ihm trennen zu müssen. Noch nicht.

Sean und Maurice trafen am frühen Abend zu Hause ein. Sean begrüßte den Brehon ehrerbietig, der, nachdem er nun ein wenig Ale geschlürft hatte, im großen Eichenstuhl in der Halle saß und sehr beeindruckend aussah. Maurice setzte sich schweigend auf einen Schemel und betrachtete neugierig den alten Mann. Eva setzte sich auf eine Bank. Dann bat Sean den Brehon höflich, sein Anliegen vorzutragen.

»Ich bin Kieram, Sohn des Art, erblicher Brehon, und ich komme im Namen Lady Fitzgeralds, der Mutter von Maurice Fitzgerald, des Pflegesohns von Sean O’Byrne«, hob er förmlich an, was den Ernst seiner Aufgabe signalisierte. »Würdest du mir bestätigen«, er wandte sich an Maurice, »dass du Maurice Fitzgerald bist?« Maurice nickte. »Und dass Ihr der besagte Sean O’Byrne seid?«

»Das bin ich«, bejahte Sean. »Und wie lautet Eure Botschaft?«

»Einige Jahre lang, Sean O’Byrne, hat dieser Maurice als Pflegesohn in Eurem Haus gelebt.« Er hielt inne und beäugte Sean, wie Eva festzustellen meinte, ein wenig streng. »Aber wie Ihr ebenfalls wisst, hat dieser junge Mann größere Ansprüche an Euch.«

Sean bestätigte diese seltsame Feststellung mit einem wohlwollenden Nicken.

»Und nach den alten Gebräuchen Irlands«, fuhr der Brehon fort, »ist es nun meine Aufgabe, Euch zu sagen, dass seine Mutter, Lady Fitzgerald, Euch auffordert, Eure Verantwortung anzuerkennen und die angemessenen Maßnahmen zu treffen.«

»Hat sie meinen Namen genannt?«

»Ja.«

Höchst erstaunt lauschte Maurice diesem Gespräch. Eva starrte den alten Mann mit einem Ausdruck des Entsetzens auf ihrem bleichen Gesicht an. Nur Sean schien sich ganz wohl zu fühlen, wie er in seinem dicken Sessel saß und zu allem, was der Brehon sagte, gelassen nickte.

»Welche Verantwortung?«, mischte Eva sich ein. »Welche Maßnahme?« Eine plötzlich in ihr aufsteigende Panik ließ ihre Stimme scharf klingen. »Was bedeuten Eure Worte?«

Der Brehon wandte sich zu ihr. Es war schwer zu sagen, was sein Gesicht, das älter zu sein schien als die Berge, ausdrückte.

»Dass Euer Mann, Sean O’Byrne, der Vater dieses Jungen ist.« Er deutete auf Maurice. »Lady Fitzgerald hat ihn benannt. Wusstet Ihr es nicht?«

Sie antwortete nicht. Ihr Gesicht war schneeweiß; ihr Mund formte sich zu einem kleinen O, aus dem kein Laut drang. Der alte Mann drehte sich zu Sean.

»Ihr streitet es nicht ab?«

Und nun lächelte Sean. »Nein. Sie hat das Recht dazu.«

Es war Gesetz und Sitte in Irland, wenn eine Frau einen Mann als Vater ihres Kindes benannte und der es anerkannte, dass dieses Kind berechtigt war, Ansprüche an seinen Vater zu stellen, bis hin zu einem Anteil auf den Landbesitz des Vaters nach dessen Tod.

»Seit wann?« Eva fand endlich ihre Stimme wieder. »Seit wann ist das bekannt?«

Da Sean es nicht eilig zu haben schien, ihr zu antworten, tat es der alte Mann. »Es besteht eine geheime Absprache zwischen den beiden Parteien seit jener Zeit, als Sean O’Byrne kam, um Maurice als Pflegesohn zu erbitten.«

»Seit Maurice hier ist. Er brachte Maurice hierher, weil er sein Sohn ist?«

»So wird es sein«, sagte der Brehon. »Lady Fitzgeralds Gemahl wollte damals weder sich noch seine Gemahlin in Verlegenheit bringen, so dass er, als er über die Angelegenheit informiert wurde, zustimmte, dass Maurice als Pflegesohn zu seinem Vater gehen solle. Da er jedoch nicht für ihn aufkommen will, ist Sean O’Byrne benannt worden.«

»Du bist mein Vater?« Nun sprach Maurice. Er war sehr bleich. Er hatte bislang Eva angesehen und drehte sich nun zu Sean.

»Ja, das bin ich.« Sean lächelte. Er schien erfreut zu sein. »Aber warum?« Evas Stimme war ein Schmerzensschrei. Sie konnte nicht anders. »Warum in Gottes Namen brachtest du deinen eigenen Sohn von einer anderen Frau in mein Haus, wo er nun schon seit Jahren lebt, hier vor meinen Augen, und hast nicht mit einem Wort gesagt, wer er wirklich ist? Du hast mich gesehen, wie ich mich um ihn gekümmert und ihn geliebt habe wie mein eigenes Kind. Und es war alles Lüge! Eine Lüge, um mich zum Narren zu halten. Hast du es darum getan, Sean? Um mich zu demütigen? In Gottes Namen, wenn ich daran denke, welch gute Frau ich dir war, warum hast du mir das angetan?« Sie schwieg einen Moment und starrte ihn an. »Du hast das jahrelang geplant.«

Und als er sie nun mit dem kühlsten Lächeln auf seinem Gesicht anschaute, sah sie auch einen Funken wütenden Triumph in seinen Augen aufblitzen.

»Du warst es, die den Mönch hergeholt hat und mich beim heiligen Kevin schwören ließ.« Er schwieg, und sie sah, wie seine Finger sich um die Lehnen des Eichensessels krallten, während er seinen Oberkörper vorbeugte. »Du, Eva, warst es, die mich gedemütigt hat, hier vor dem Mönch und dem Priester, in meinem eigenen Haus.« Seine Stimme erhob sich in unterdrücktem Zorn. Er warf sich in den Sessel zurück, Dann lächelte er. »Du hast dich wunderbar um meinen Sohn gekümmert. Das muss ich sagen.«

Und in einem schrecklichen, versengend blitzartigen Moment verstand Eva, wie nie zuvor, die Eitelkeit eines Mannes und den langen kalten Atem seiner Rache.

In dem Moment lief Maurice aus der Halle.

* * *

Sean und Eva aßen schweigend zu Abend. Der Brehon, der Vater Donal besuchte, hatte ihnen die Nachricht zukommen lassen, er bleibe bis zu seiner Abreise am frühen Morgen beim Priester und seiner Familie. Maurice hatte sich in die Scheune gesetzt und wollte allein sein. Obwohl Eva ihn gebeten hatte, ins Haus zu kommen, hatte er höflich wie immer darum ersucht, ihm möge erlaubt sein, mit seinen Gedanken allein zu sein; nachdem Eva ihm liebevoll den Arm getätschelt hatte, ließ sie ihn dort zurück.

Sean hatte bereits angekündigt, er wolle am nächsten Morgen wieder auf die Bergweide gehen. Die beiden saßen da – er offensichtlich zufrieden, sie in ihrem steinernen Schweigen –, bis sie endlich, als ihr Mahl vorüber war, sagte: »Darüber werde ich nie hinwegkommen.«

»Du brauchst nur Zeit.« Er hatte einen Apfel in der Hand. Er schnitt ihn mit seinem Messer in vier Teile, wobei er die Kerne drin ließ, und aß ein Viertel mitsamt den Kernen. »Was geschehen ist, ist geschehen«, bemerkte er. »Du liebst ihn doch. Er ist ein guter Junge.«

»Ja, er ist gut. Es verblüfft mich nur, dass jemand, der so gut ist, dein Sohn sein kann«, sagte sie bitter.

»Ja, glaubst du?« Er nickte nachdenklich. »Es hat den Anschein, dass ich mit seiner Mutter einen besseren Sohn zeugen konnte als mit dir.« Und er nahm das nächste Apfelstück zur Hand.

Ihr Schmerz über die grausamen Worte fuhr ihr wie ein Dolch in den Magen. Sie dachte an Fintan.

»Liebst du überhaupt irgendwen?«, fragte sie schließlich. »Außer dich selbst?«

»Ja, tue ich.« Er ließ die Worte wie einen Köder vor einem Fisch im Bach baumeln, doch sie war klug genug, sich abzuwenden.

Sie blieben schweigend sitzen, bis er in wohl kalkulierter Muße die anderen beiden Apfelviertel aufgegessen hatte.

»Er muss gehen«, sagte sie.

»Du bist groß darin, Leute aus meinem Haus zu werfen. Willst du nun wirklich meinen eigenen Sohn loswerden?«

»Sean, er muss gehen. Du sagst, dass ich ihn liebe, und das stimmt. Doch ich ertrage es nicht. Er muss gehen.«

»Mein Sohn bleibt im Hause seines Vaters«, erwiderte er mit Nachdruck, und damit stand er auf und ging zu Bett. Sie blieb allein in der Halle sitzen und grübelte, was sie tun sollte. Sie saß die ganze Nacht da.

Wollte sie wirklich, dass er ginge? Sie dachte daran, was Maurice ihr alles bedeutet hatte. Wie musste er sich da draußen in der Scheune fühlen? War es denn nicht genau derselbe Kampf gegen den Willen ihres Mannes? War es denn nicht noch mal dasselbe, außer dass er ihr dieses Mal noch größeren Schmerz und eine noch größere Demütigung zufügte? Dieses Mal hatte er sogar dafür gesorgt, dass sie den Jungen, den Anlass ihres Schmerzes, liebte, und dann diese Liebe vergiftet. Oh, er hatte sehr geschickt gehandelt. Das musste sie ihm zugestehen. Er hatte sie einen bitteren Kelch trinken lassen.

Und aus diesem Grund konnte sie es nicht mehr ertragen, Maurice bei sich zu haben. Als der Morgen dämmerte, schien es ihr, als gebe es keinen Ausweg.

Doch nur wenige Stunden später war ihr die Entscheidung aus der Hand genommen, von Maurice, der sich zum ersten Mal in all den Jahren, die er bei ihnen lebte, sehr ruhig, aber bestimmt weigerte, dem Mann zu gehorchen, von dem er nun wusste, dass er sein Vater war. Er sagte ihnen, er wolle sie verlassen.

»Vater, ich werde dich oft besuchen«, sagte er. »Und dich auch, wenn ich darf«, meinte er zu Eva gewandt mit einem sanften Blick voll Traurigkeit in seinen wunderschönen Augen, die so seltsam und so smaragdgrün waren.

»Du musst nicht gehen, Maurice«, rief sie. »Du musst nicht gehen.«

Doch er war fest entschlossen. »Es geschieht in bester Absicht«, sagte er.

»Wo willst du hin?«, fragte ihn Sean mit etwas belegter Stimme. »Nach Munster?«

»Um die Mutter zu sehen, die mich verriet, und ihren Mann, der mich nicht will?« Traurig schüttelte er den Kopf. »Wenn ich meine Mutter sähe, würde ich sie verdammen.«

»Wohin dann?«

»Vater, ich habe beschlossen, nach Dublin zu gehen.«

* * *

MacGowan war höchst überrascht, als Maurice zu ihm kam. Und er war noch überraschter, als ihm Maurice seine Geschichte erzählte. Es geschah nicht oft, dass der Grauhändler von einem lang gehegten, auch intimen Geheimnis erfuhr, von dem er nicht längst wusste.

»Und nun bittest du mich also, dich als Lehrjungen zu nehmen?«, fragte er noch einmal nach.

»Ja. Ich bin sicher, dass mein Vater – Sean O’Byrne – die Kosten für die Lehre übernimmt.«

»Bestimmt.«

»Wenn Ihr mich in Betracht ziehen wolltet.«

MacGowan war sich ganz sicher, dass der junge Mann mit seiner höfischen Erziehung und den guten Manieren der ideale Grauhändler wäre, den man außerhalb des Pale und in den besten Dubliner Kreisen gleichermaßen willkommen heißen würde. Er wird es weit bringen, dachte MacGowan, sogar weiter als ich.

»Es gibt ein Problem«, sagte er.

»Das wäre?«

»Dein Name. Er könnte dich in Gefahr bringen«, sagte MacGowan.

»Ich heiße nicht mehr Fitzgerald«, entgegnete Maurice mit einem Lächeln. »Ihr vergesst, dass ich ein O’Byrne bin.«

»Ja, das bist du.« MacGowan nickte versonnen. »Aber auch der könnte in Dublin ein Problem sein. Er klingt zu irisch.«

Aufgrund seines Charakters und Benehmens würde der junge Mann vermutlich in kürzester Zeit alle Vorurteile ausräumen. Und dennoch wäre es ein schlechter Einstieg, erklärte er Maurice freundlich, wenn er sich als Sohn von Sean O’Byrne vorstellte – der schließlich versucht hatte, die Frau des Ratsherrn Doyle zu entführen. »Und eines Tages wirst du die Bürgerrechte haben wollen«, sagte er ihm Voraus. »Sei gewiss.«

»Um aufrichtig zu sein, ich fühle mich eher wie eine Waise denn wie ein Sohn, und da ich beabsichtige, ein unabhängiges Leben zu führen, wäre ich recht froh, einen anderen Namen anzunehmen.« Der junge Mann schaute MacGowan einen Moment prüfend an und lächelte dann. »Euren Namen zum Beispiel. MacGowan auf Englisch wäre Smith. Lasst mich Maurice Smith sein. Würde das gehen?«

»Es würde sehr gut gehen«, sagte MacGowan lachend. »Du sollst Maurice Smith sein.«

Und so geschah es, dass zu Beginn des Herbstes 1535, während Silken Thomas bei gefährlicher See auf dem Weg nach London war, ein Abkömmling der fürstlichen Fitzgeralds und O’Byrnes und auch, obwohl er es nicht wusste, von Deirdre und Conall und sogar von dem alten Fergus nach Dublin kam und dort unter dem englischen Namen Maurice Smith Lehrling wurde.

Eine Woche später bekam Maurice zu seiner großen Überraschung Besuch. Es war sein Vater.

Sean hatte ein wenig Zeit gebraucht, seinen Sohn aufzuspüren. Er hatte vermutet, dass Maurice zu MacGowan gegangen war, doch als er das erste Mal im Haus des Händlers fragte, ob dort ein junger Mann namens O’Byrne lebe, verneinten die Nachbarn. Sean schien nicht sonderlich verstimmt zu sein, dass Maurice beschlossen hatte, seinen eigentlichen Namen abzulegen.

»Du hast so viele Jahre mit einem anderen Namen gelebt, dass ich annehme, es ist dir zur Gewohnheit geworden«, meinte Sean mit einem Lächeln.

Er blieb nicht lang, doch er hatte ihm eine quadratische Kiste mitgebracht.

»Du hast dich entschieden, nicht in Rathconan zu leben«, sagte er. »Dennoch sollst du etwas haben, das dich an deine Familie erinnert.«

Dann ging er.

Nachdem sein Vater ihn allein gelassen hatte, öffnete Maurice die Kiste. Überrascht und freudig fand er darin den Trinkschädel des alten Fergus.

* * *

Im irischen Parlament, das von Mai 1536 bis zum Dezember des folgenden Jahres zusammentrat, war kein Mitglied beflissener darum bemüht, dem König zu gefallen, als der Anwalt William Walsh.

Unter der Leitung des Londoner königlichen Rats verabschiedete das irische Parlament Maßnahmen, um die Regierung Irlands in England zu zentralisieren und um Steuern zu erheben. Es erkannte Heinrich VIII. und nicht den Papst als Oberhaupt der irischen Kirche an. Damit war seiner Scheidung und Wiederverheiratung die Rechtsgültigkeit zuerkannt worden.

Der Sturz der Fitzgeralds war schrecklich. Nachdem Silken Thomas erst, wie versprochen, höflich am englischen Hof empfangen worden war, warf man ihn kurzerhand in den Tower. Seine fünf Onkel, darunter auch die beiden, die eigentlich auf Seite der Engländer standen, wurden nach London gebracht und ebenfalls in den Tower gesperrt. »Und wir müssen das alles im Parlament auch noch absegnen«, sagte Walsh resigniert zu seiner Frau. Im tiefen Winter desselben Jahres brachte man die sechs Fitzgeralds zum Richtplatz in Tyburn und richtete sie brutal hin. Es war unmoralisch, es war ein Bruch zugesagter Garantien, aber das Parlament erklärte dies alles für rechtens.

Unterdessen waren in Irland fünfundsiebzig Haupttäter, die mit Silken Thomas paktiert hatten, zur Hinrichtung verurteilt worden. Ein Schaudern ging durch das Land. Und dem niederen Adel, zu dem auch William Walsh gehörte, der mit Fitzgerald einverstanden gewesen war, wurde gesagt, dass ihnen je nach königlichem Willen gegen eine Geldstrafe Gnade gewährt werden könne. »Gott sei Dank hatte ich Zeugen, um zu beweisen, dass ich diesen verdammten Eid unter Zwang abgelegt habe. Doch welche Höhe die Geldstrafe haben wird, weiß ich noch nicht, und die Hälfte der Parlamentsmitglieder befindet sich in derselben Lage«, erzählte William. Heinrich ließ sie warten, bis sie im Parlament seine gesamte Gesetzgebung genehmigt hatten. Walsh gestand: »Er hat uns genau da, wo er uns haben will.«

Dennoch überraschte es Margaret, dass es nicht größeren Widerstand gegen Heinrichs Kirchenpolitik gab. »Manche Kleriker haben protestiert«, erzählte ihr William. »Doch einige der einflussreichsten Köpfe waren so mit Silken Thomas verstrickt, dass man ihnen entweder ihre Pfründe weggenommen hat oder sie fliehen mussten. Tatsache ist«, fügte er an, »obwohl Heinrich VIII. sich selbst an die Stelle des Papstes gesetzt hat – was natürlich eine Ungeheuerlichkeit ist –, deutet wenig darauf hin, dass er beabsichtigen könnte, die Glaubensart und –lehre zu ändern.« Ein neuer Erzbischof mit Namen Browne kam nach Dublin, von dem es hieß, er habe einen Hang zum Protestantismus, doch bislang hatte er noch nichts dergleichen geäußert oder getan. »Die eigentliche Frage ist, was Heinrich mit den Klöstern vorhat.«

In England hatten die großen Veränderungen bereits eingesetzt. Unter dem Deckmantel einer Glaubensreform plante der Tudor–König, der das Geld stets schneller ausgab, als er es einnahm, all die reichen Ländereien und Besitztümer der mittelalterlichen englischen Klöster in die eigene Hand zu nehmen und sie zu verkaufen. Würde er in Irland dasselbe tun?

Eines Tages meinte Walsh bei einem gemeinsamen Essen der Familie zu seinem Sohn Richard: »Eine Auswirkung der Ereignisse in England ist, dass sie den Anwälten eine riesige Menge Arbeit bringen. Jedes Kloster will rechtlich vertreten sein und seinen Fall verhandeln.« Richard, der eng mit seinem Vater zusammenarbeitete, hatte sich bereits bei einigen klösterlichen Ordenshäusern sehr beliebt gemacht. »Für Anwälte wie uns, Richard, könnte das sehr lukrativ sein.«

Obwohl Margaret dazu schwieg, schockierte sie diese Haltung ein wenig. Als vor dem Parlament die Maßnahme, dreizehn irische Klöster zu schließen, verhandelt wurde, war sie froh zu hören, dass sich endlich Widerstand regte. Und als William eines Nachmittags von den mehrtägigen Debatten heimkehrte, fragte sie ihn gespannt aus.

»Das Problem ist«, ließ er sie wissen, »wer das Land bekommen soll. Viele haben Angst, es könnte den Anhängern des Königs und den Butlers zugesprochen werden. So mancher deiner Freunde aus dem Fingaler Adel geht zu Heinrich und fordert seinen Anteil. Doyle und anderen Ratsherren ist bereits eines der Klöster als Belohnung für die Stadt versprochen worden, da sie sich Silken Thomas widersetzt haben.«

»Du sprichst so, als ginge es nur ums Geld«, wandte sie ein.

Der Anwalt seufzte. »Ich fürchte, darum geht es in der Regel immer.«

Das Thema Geld war in dieser Zeit nie weit aus Walshs Gedanken. Nicht allein der königliche Straferlass und die Geldstrafe waren seit vielen Monaten eine ungelöste Frage, sondern da waren auch die Schulden bei Joan Doyle, die noch zurückgezahlt werden mussten. »Und dennoch«, sagte er bei verschiedenen Gelegenheiten zu Margaret, »waren diese Schwierigkeiten auch eine Art Segen.« Und zwar wegen der Wirkung, die sie auf den jungen Richard hatten.

Richard Walsh, der in seiner Londoner Zeit als junger Gentleman seine Familie mehr Geld gekostet hatte, als diese sich leisten konnte, war sich seiner Verantwortung nunmehr schmerzhaft bewusst. Er hatte sich seinen jungenhaften Charme bewahrt, sah mit den von der Mutter geerbten roten Haaren auffallend gut aus und war zudem ein sehr guter Anwalt geworden, der entschlossen war, seiner Familie das zurückzuzahlen, was er ihr zu schulden glaubte. Er arbeitete fleißig an der Seite seines Vaters und übernahm jede Reise, von der er meinte, sie könnte seinem Vater zu anstrengend sein; wenn William am Ende eines langen Tages sich über alte Dokumente hätte setzen müssen, beugte sich Richard die ganze Nacht über sie, so dass sein Vater am nächsten Morgen die erledigte Arbeit vorfand. Er spürte neue Fälle auf, vertrat William, wenn der im Parlament zu tun hatte, und lernte dabei viel über die irischen Gesetze.

»Manchmal muss ich ihn bremsen«, sagte sein Vater stolz. »Da er aber jung ist, schaden ihm diese Anstrengungen nicht.«

Trotz aller Bemühungen waren die Walshs weiterhin nur in der Lage, Dame Doyle die Zinsen für ihr Darlehen zu zahlen und einen kleinen Rest für das demnächst fällige königliche Bußgeld beiseite zu legen.

Inzwischen war der Ratsherr über die Leihgabe seiner Frau im Bilde. Als königstreuer Ratsherr, der sich gegen Silken Thomas gestellt hatte, und mit einer Ehefrau, die von O’Byrne angegriffen worden war, stand der reiche Kaufmann hoch in der königlichen Gunst und würde wahrscheinlich von den klösterlichen Besitztümern profitieren.

»Die Zinsen kann ich begleichen«, sagte William dem Ratsherrn. »Aber um die gesamte Summe zurückzuzahlen, brauche ich noch Zeit. Ich muss auch an die königliche Geldstrafe denken.«

»Es heißt, Euer Sohn Richard stehe Euch hilfreich zur Seite.«

»Ja.« Walsh wurde vor Stolz ein bisschen rot und erzählte ihm von den Bemühungen des jungen Mannes.

»Was Euer Darlehen angeht«, sagte dann Doyle zu Walsh, »ich habe davon unmittelbar, nachdem sie es Euch geliehen hat, erfahren, wie bei jedem anderen Borger auch. Aber Ihr seid tüchtiger als die meisten anderen.« Er schwieg einen Moment. »Und was die Geldstrafe angeht, wäre es mir eine Freude, Euretwegen mit den königlichen Beamten zu sprechen. Ich habe bei ihnen noch etwas gut.« Und eine Woche später, als sie sich wieder trafen, hatte Doyle ihm gesagt: »Eure Geldstrafe wird nur eine symbolische Zahlung sein. Sie wissen, Ihr tragt keine Schuld.«

Als Walsh Margaret von diesem Gespräch erzählte, nahm sie die gute Nachricht mit einem Lächeln auf. Doch innerlich zitterte sie noch immer. Es war nie ein Wort über ihre Verstrickungen in den Entführungsversuch gefallen, so dass sie vermutete, O’Byrne habe Stillschweigen gewahrt oder falls er MacGowan ins Vertrauen gezogen haben sollte, so habe dieser seine Gründe, nichts zu sagen. Doch er könnte seine Meinung ändern, oder O’Byrne könnte reden. Und es verging kaum ein Tag, an dem sie in ihrer Erinnerung nicht in MacGowans schreckliches, kalt anklagendes Auge sah oder das Echo ihrer eigenen Worte vernahm, die sie gesprochen hatte, als O’Byrne sie gefragt hatte, was er mit Joan Doyle tun solle, wenn die Entführung nicht vollständig gelinge. »Tötet sie.«

Im Herbst 1537 klopfte Richard Walsh an die Tür des Ratsherrn Doyle, um dessen Frau eine Zahlung auszuhändigen. Er beabsichtigte, nur so lange zu bleiben, bis sie den Geldbetrag überprüft hätte, und da er an diesem Morgen fleißig Aufzeichnungen in der Christ Church studiert hatte, war er über und über mit Staub bedeckt. Er war darum leicht verwirrt, als man ihn in den Salon bat und er dort auf einige Mitglieder der Familie Doyle traf. Neben Dame Doyle warn da der Ratsherr, der in seiner rot–goldenen Tunika prächtig aussah, einer seiner Söhne, seine Tochter Mary und eine jüngere Schwester. Man hätte sie für die Familie eines reichen Kaufmanns oder eines Höflings im vornehmen London halten können, während er selbst gerade wie ein staubiger Büroschreiber aussah. Es war ein bisschen erniedrigend, doch daran war nichts zu ändern. Sie beäugten ihn neugierig–»Ich wollte Eure Familie nicht stören«, sagte er höflich zu Dame Doyle. »Ich bin nur gekommen, um Euch zu übergeben, was Euch gehört.« Und er reichte ihr einen kleinen Geldbeutel. »Ich könnte ein anderes Mal wiederkommen.«

»Nein, nicht doch.« Joan Doyle nahm den Beutel mit einem liebenswürdigen Lächeln entgegen. »Überflüssig, dass ich es nachzähle«, sagte sie.

»Ich höre, dass Ihr alles zusammenhaltet, während Ihr Vater und ich diese Sitzungsperiode im Parlament zu Ende bringen«, bemerkte Doyle mit freundlichem Nicken; und Richard war dankbar für diese Andeutung, dass der reiche Ratsherr und sein Vater kollegialen Umgang pflegten. »Er erzählt nur Gutes über Euch«, setzte er hinzu.

Richard hatte den Eindruck, dass der Sohn des Ratsherrn ihn trotz dieser ermunternden Worte nicht sehr respektvoll betrachtete; auch die Tochter Mary schaute ihn an, doch er hatte keine Ahnung, was sie wohl dachte. Die jüngste Tochter – er schätzte sie auf etwa dreizehn – kicherte. Er warf ihr einen fragenden Blick zu.

»Ihr seid ganz schmutzig.« Und sie zeigte es ihm.

Er hatte den großen Fleck unten an seinem Ärmel bisher nicht bemerkt. Er stellte auch fest, dass die Manschette durchgescheuert war. Er hätte rot werden können. Doch zum Glück kamen ihm seine Londoner Jahre als vornehmer junger Mann zugute. Er brach in schallendes Gelächter aus.

»Ja, tatsächlich. Ich hatte es nicht bemerkt.« Er schaute zu Doyle. »Das kommt davon, wenn man in der Christ Church mit den Dokumenten arbeitet.« Und an Joan Doyle gewandt: »Ich hoffe, ich habe den Staub nicht in Eurem ganzen Haus verteilt.«

»Das glaube ich kaum.«

»Richard, es muss gesagt werden«, Doyles Ton war familiär, als spräche er mit einem der Seinen, »Ihr braucht neue Kleider.«

»Ich weiß«, antwortete ihm Richard frei heraus. »Das ist wahr. Ich warte aber damit, bis unsere Geschäfte besser laufen. Ich schiebe es so lang wie möglich hinaus.« Er drehte sich zu dem Mädchen, das gekichert hatte, und warf ihm ein charmantes Lächeln zu. »Und wenn ich erst eine hübsche neue Tunika habe, kannst du sicher sein, dass ich sofort herkomme und sie dir vorführe.«

Doyle nickte, doch da ihn das Kleiderthema offensichtlich langweilte, unterbrach er ihn.

»Ihr wollt Euer Glück machen, Richard?«

»Ja. Wenn es mir gelingt.«

»Ein Anwalt wie Ihr könnte in Dublin ganz erfolgreich sein«, sagte Doyle. »Doch mit dem Handel ist mehr Geld zu verdienen. Eine Ausbildung in Recht kann im Handel sehr nützlich sein.«

»Ich weiß, und ich habe darüber nachgedacht; ich habe jedoch nicht die Absicht, diese Richtung einzuschlagen. Ich muss mit den Werten arbeiten, die ich habe.«

Doyle nickte kurz, und das Gespräch war zu Ende. Richard verneigte sich höflich vor allen und drehte sich um, um zu gehen. Gerade als er an der Tür war, hörte er Joan Doyle sagen: »Ihr habt wundervolles Haar.«

Er war bereits auf der Skinner Row, als Mary Doyle sprach. Sie war ein hübsches Mädchen mit dem spanischen Aussehen ihrer Mutter und den strengen, intelligenten Augen ihres Vaters.

»War er nicht am Inns of Court?«, fragte sie ihren Vater.

»Ja.«

»Ist er ein Walsh von Carrickmines?«

»Aus einem Zweig der Familie, ja.« Er sah sie an. »Warum?«

»Nur so.«

* * *

Als MacGowan eines Nachmittags Anfang des Jahres 1538 mit dem Ratsherrn Doyle plauderte, war er recht erstaunt, als dieser ihn nach seiner Meinung über den jungen Richard Walsh fragte.

»Meine Tochter Mary scheint an ihm interessiert zu sein.«

MacGowan überlegte. Er überdachte alles, was er von Richards Mutter wusste. Er dachte an O’Byrnes und an die geheimnisvolle Gestalt, die ihn in Rathconan aufgesucht hatte. Abgesehen von wenigen Leuten um Silken Thomas konnte niemand sonst von Joan Doyles Fahrt gewusst haben. Und als er auf dem Rückweg von der Totenwache des armen Fintan erfahren hatte, dass Margaret an jenem verhängnisvollen Tag ausgeritten war, war er sich ganz sicher. Er hatte keine Ahnung, warum sie so etwas hätte tun sollen, aber es musste Walshs Frau gewesen sein. Und hatte er nicht Furcht, Schuld und Entsetzen in ihrem Gesicht gesehen, als er sie prüfend angestarrt hatte?

Täte es seinem Freund Doyle gut, wenn er es wüsste? Nein, er glaubte nicht. Manche Geheimnisse waren so finster, dass man sie besser unter den Bergen ruhen ließ. Sollte Margaret Walsh ihn doch fürchten und ihm für sein Schweigen dankbar sein. Geheimnisse zu kennen war schon immer seine Stärke gewesen.

»Ich habe nichts Nachteiliges über Richard Walsh gehört«, antwortete er wahrheitsgemäß. »Alle scheinen ihn zu mögen.« Er schaute Doyle neugierig an. »Ich hätte vermutet, dass Ihr nach einem reichen jungen Gentleman Ausschau haltet. Ein Mädchen wie Mary – sie hat ja nun sogar die Bürgerrechte der Stadt erhalten – wäre eine gute Partie für jede Familie in Fingal.«

Doyle murrte. »Daran habe ich auch gedacht. Das Problem ist nur«, und hier ließ ihn seine lebenslange Erfahrung aufseufzen, »reiche junge Gentlemen wollen normalerweise nicht arbeiten.«

»Ah ja«, bestätigte MacGowan ruhig. »Das stimmt.«

* * *

Als im Sommer 1538 ihr Sohn Richard sie bat, sie möge Joan Doyle besuchen, durchlebte Margaret Momente höchster Panik. Das große Haus in Dublin zu betreten, von Angesicht zu Angesicht sich der Frau gegenüberzubefinden, deren Tochter Richard bald heiraten würde – und Joan hat noch immer keine Ahnung, dachte sie, dass ich versucht habe, sie umzubringen. Wie könnte sie dieser Frau in die Augen sehen?

»Sie fragt immer wieder, wann du sie besuchst«, berichtete Richard. »Sie wird es für sehr unhöflich halten, wenn du nicht kommst.«

Und daher trat Margaret an einem Sommertag durch die schwere Haustür, an die sie sich so genau erinnerte, und fand sich kurz darauf bequem im Wohnraum allein mit der wohlhabenden kleinen Frau wieder, die glaubte, sie sei ihre Freundin – und die sie nach einer herzlichen Umarmung noch tiefer verwirrte, da sie mit einem glückseligen Lächeln erklärte: »Ich verrate Euch ein Geheimnis. Ich habe immer gedacht, dass es dazu kommen würde.«

»Wie kann das sein?« Margaret konnte sie nur bestürzt ansehen.

»Erinnert Ihr Euch, als ich bei diesem Sturm bei Euch Zuflucht suchte und er mit uns sprach? Ich dachte damals: Das ist genau der Richtige für Mary. Und seht doch nur, wie prächtig er sich entwickelt hat.«

»Das hoffe ich. Danke«, stammelte die arme Margaret.

Sie schwiegen beide, Margaret wusste nicht, was sie sagen sollte, und so dauerte es, bis sie schließlich hervor brachte: »Es war sehr gütig von Euch, uns Geld zu leihen.« Sie danke Gott, dass die königliche Geldbuße nun endlich ganz abgezahlt sei, so dass William, wie er ihr gesagt habe, bald in der Lage sein würde, Joan Doyle die Summe zurückzugeben. Als Margaret über das Darlehen sprach, strahlte Joan förmlich.

»Es war mir eine Freude. Wie ich es Eurem Mann gesagt habe: ›Mir genügt zu wissen, dass es diesem reizenden Jungen hilft.‹ « Sie seufzte. »Er hat Euer wundervolles Haar.«

»Ja.« Margaret nickte zurückhaltend. »Ja, das hat er.«

»Und dass unsere Männer gemeinsam im Parlament sitzen – mein Mann hat eine hohe Meinung von Eurem, müsst Ihr wissen hat unsere Familien näher zusammenrücken lassen.«

Margaret fragte sich einen Moment, ob sie zur Sprache bringen solle, dass sie bedauerlicherweise bei Silken Thomas’ Revolte auf entgegengesetzten Seiten standen, und überlegte es sich dann anders. Doch eine Frage ließ sie nicht los.

»Es gab eine Zeit«, sie beobachtete Joan Doyle derweil aufmerksam, »als mein Mann auf einen Sitz im Parlament hoffte und abgelehnt wurde.«

»Ja.« Joan Doyle schaute bedächtig. »Mein Mann hat mir damals davon erzählt.« Sie hielt einen kleinen Moment inne. »Er sagte mir, ich dürfe nicht darüber sprechen, doch das ist lange her. Wisst Ihr, was damals geschah? So ein Wichtigtuer in Munster, ein Spion des Königs, hatte einen Verdacht gegen Euren Mann geäußert. Mein Mann setzte sich für ihn ein. Er war wütend. Er sagte, die ganze Sache sei absurd, und obwohl er für ihn bürgte, konnte er nichts tun.« Sie seufzte. »Diese Männer und ihre endlosen Verdachtsmomente. Staatsangelegenheiten sind meistens albern. So denke ich darüber.«

Margaret erfuhr vieles, das ihren bisherigen Auffassungen unangenehm widersprach. Dennoch musste sie noch eine andere Sache ansprechen.

»Es überrascht mich, dass Ihr Eurer Tochter erlaubt, meinen Sohn zu heiraten und nicht einen jungen Mann aus einer angesehenen Familie.« Sie machte eine kleine Pause. »Wie den Talbots von Malahide.«

Joan Doyle sah sie verwundert an.

»Warum erwähnt Ihr sie jetzt?« Sie dachte einen Augenblick nach. »Ihr habt mir doch einmal erzählt, dass Ihr sie nicht mögt. Aber ich habe nie erfahren, warum.«

»Sie waren recht unfreundlich zu mir, als ich ein Mal dort war«, sagte sie. »Zumindest die Mutter. Ich war noch ein junges Mädchen.«

»Das muss die alte Lady Talbot gewesen sein.« Joan Doyle schaute einen Moment an die Wand über Margaret. »Ich selbst kannte sie nicht. Sie starb, bevor ich das erste Mal nach Malahide kam. Ich wusste nicht, dass Ihr sie getroffen habt. Die übrige Familie war sehr nett.« Dann lächelte sie. »Ihr müsst wissen, meine Tochter Mary liebt Euren Sohn sehr. Wart Ihr verliebt, als Ihr geheiratet habt?«

»Ja, doch«, antwortete Margaret.

»Es ist besser, verliebt zu sein«, seufzte Joan Doyle. »Ich kenne viele Paare, die es nicht sind.« Und dann mit einem zufriedenen Lächeln: »Ich hatte sehr viel Glück. Ich habe mich ganz langsam in John Doyle verliebt, doch als wir geheiratet haben, liebte ich ihn, und seitdem liebe ich ihn jeden Tag meines Lebens.« Sie warf Margaret einen äußerst warmherzigen Blick zu. »Macht Euch das klar. Ich liebe ihn Tag für Tag seit mehr als zwanzig Jahren.« Und Margaret spürte, es gab keinen Zweifel, nicht den winzigen Hauch eines Zweifels, dass nicht jedes Wort, das Joan Doyle, seit sie zusammensaßen, gesprochen hatte, der Wahrheit entsprach. Die Doyles hatten Walsh nie denunziert, Joan wusste nichts über die Erniedrigung, die Margaret bei den Talbots widerfahren war, und sie war ihrem Mann nie untreu gewesen. Nun blieb nur noch eines aufzuklären.

»Sagt mir, wusstet Ihr, dass Eure und meine Familie sich vor langer Zeit entzweit haben?« Und Margaret erzählte ihr die Geschichte über den Erbstreit.

Es stand außer Frage – Joan Doyle war keine Schauspielerin –, ihr erstaunter und entsetzter Blick war nicht geheuchelt, konnte es nicht sein. Sie hatte nie zuvor von dieser Erbschaft gehört.

»Das ist ja schrecklich«, rief sie. »Ihr meint, wir haben das Geld Eures Vaters?«

»Mein Vater war fest davon überzeugt, dass die Butlers kein Anrecht darauf hatten«, präzisierte sie. Und dann meinte sie hinzufügen zu müssen: »Er kann sich getäuscht laben.«

»Aber es muss ihm eine furchtbare Pein gewesen sein.« Wieder sah Joan nachdenklich aus, dann hatte sie eine Idee. »Wir können«, so schlug sie vor, »das Darlehen löschen.«

»Lieber Gott«, sagte Margaret nun höchst verwirrt. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

Doch Joan Doyle sah nicht so aus, als hörte sie ihr zu. Sie schien in Gedanken versunken. Schließlich streckte sie die Hand aus und berührte Margarets Arm.

»Unter diesen Umständen hättet Ihr leicht eine Abneigung gegen mich entwickeln können«, sagte sie lächelnd. »Es war sehr lieb von Euch, dass Ihr sie nicht hattet.«

»Oh«, sagte Margaret hilflos. »Wie könnte ich.«

Als Cecily Tidy hörte, was vor sich ging, lief sie rasch vom Westtor zur Skinners Row. Denn auf dem weiten Vorhof der Christ Church–Kathedrale loderte vor den Augen einer Menschenmenge, unter der sich auch der Ratsherr Doyle befand, ein Feuer. Es diente weder dem Zweck, die Armen, denen die Mönche Essen und Obdach boten, an diesem Wintertag zu wärmen, noch gehörte es zur Feier der Wintersonnenwende. Das Holz war auf Befehl von niemand Geringerem als George Browne, dem Erzbischof von Dublin, aufgeschichtet und angezündet worden, der wenige Minuten, bevor Cecily eintraf, herausgetreten war, um sich zu vergewissern, dass die Flammen hochschlugen.

Der Erzbischof schickte sich an, einige der größten Schätze Irlands zu verbrennen.

Als Cecily zum Ort des Geschehens kam, waren gerade zwei kleine Karren, von sechs gallowglasses begleitet, an das Feuer geschoben worden. Die beiden Beamten, die nun anfingen, sie zu entladen, waren eben von einer Rundreise durch die Kirchen der Vororte zurückgekehrt. Einer trug einen Hammer und einen Meißel. Sein Kollege warf gerade mit Hilfe eines Soldaten eine kleine, aber wohl doch schwere Holzstatue der heiligen Maria ins Feuer. Das Verbrechen dieser Statue, für das sie eine solche Bestrafung verdiente, war, dass sie angebetet worden war.

»Lieber Gott«, murmelte Cecily, »werden sie uns alle zu Protestanten machen?«

* * *

Auf dem Karren, der dem Scheiterhaufen am nächsten stand, lag zwischen all den Reliquienschreinen und mit Edelsteinen besetzten Schatullen ein Totenschädel mit einem goldenen Reif, so etwas wie ein Trinkgefäß. Ein englischer Soldat hatte ihn aus dem Haus eines unverschämten Lehrjungen mit auffallend grünen Augen mitgenommen. Der Soldat wusste nicht genau, was es war, doch da er den Befehl hatte, alles dem Feuer zu übergeben, das nach heidnischer, götzendienerischer Vergangenheit roch, hatte er den Totenschädel mit zur übrigen Beute geworfen. Das Gold könnte aber von Wert sein. Heftig protestierend hatte der grünäugige Lehrjunge erklärt, der Totenschädel sei ein Familienerbstück, und als er mit dem Soldaten darum zu ringen begann, hatte der sein Schwert gezogen, und der junge Mann musste ihn widerwillig gewähren lassen.

Cecily sah voll Entsetzen zu. Wenn man irgendeinen Beweis für die wahre Natur des ketzerischen Königs und seiner Handlanger brauchte, dann wurde er hier geboten. Sie spurte, wie in ihr Zorn gegen diese Gottlosigkeit aufstieg und sich bei dem Gedanken an einen solchen schrecklichen Verlust Verzweiflung breit machte. Sie blickte in die Menschenmenge. Wollte denn nicht irgendjemand etwas unternehmen? Sie hatte schon längst die Hoffnung auf die meisten Dubliner aufgegeben, doch es fiel ihr schwer zu glauben, dass gar niemand auch nur ein Wort dagegen sagte.

Und sie selbst, was tat sie?

Noch vor drei Jahren hätte sie die Beamten zumindest angebrüllt und sie Ketzer geschimpft. Doch seit Silken Thomas’ misslungener Revolte und der Rückkehr ihres Mannes zur Familie in den Turm hatte sich in Cecily Tidy etwas verändert. Vielleicht lag es daran, dass sie älter geworden war; vielleicht wollte sie ihren hart arbeitenden Mann nicht verärgern. Was auch immer die Gründe waren, da sich ihre religiösen Überzeugungen nicht im Geringsten gewandelt hatten, war etwas in Cecily Tidy gestorben. Selbst jetzt, wo sie miterleben musste, dass alles, was heilig war, vernichtet wurde, machte sie keine Szene.

Dann sah sie plötzlich den Ratsherrn Doyle. Er stand mit seinem Schwiegersohn Richard Walsh mitten in der Menschenmenge und beobachtete mit höchstem Abscheu die Vorgänge. Sie ging zu ihm.

»Oh, Ratsherr Doyle«, sagte sie. »Das ist ein entsetzliches Sakrileg. Kann man nichts dagegen tun?«

Zu ihrer Überraschung meinte sie so etwas wie Scham in seinen Augen zu entdecken.

»Kommt«, sagte er ruhig und führte sie am Arm zu den beiden Beamten; Richard folgte ihnen mit einigen Schritten Abstand. Die gallowglasses guckten, als wollten sie einschreiten, doch einer der Beamten, der Doyle erkannt hatte, sagte: »Guten Morgen, Ratsherr«, und die Soldaten hielten sich zurück.

»Was habt Ihr hier?«, fragte Doyle.

»Reliquien«, sagte der Beamte kühl. Sein Kollege brach gerade einen kleinen, mit Edelsteinen besetzten Goldschrein auf. »Manche lassen sich nur schwer öffnen«, bemerkte er, während der andere, nachdem er erfolgreich den Deckel aufgestemmt hatte, eine heilige Haarlocke ins Feuer warf, die sofort in Flammen aufging.

»Und das Kästchen?«, wollte Doyle wissen und zeigte auf den goldenen Reliquienschrein, der gerade so rüde geöffnet worden war. »Das ist Gold für den König.« Kaum hatte der Mann das gesagt, beobachtete Cecily, wie er mit dem Meißel einen der Edelsteine aus dem Deckel brach und ihn gelassen in eine Ledertasche fallen ließ, die ihm am Gürtel hing.

»Die Kirche muss geläutert werden«, sagte der Beamte zum Ratsherrn.

Cecily staunte über seine kaltblütige Unverschämtheit.

»Sie entweihen die Schreine, Cecily«, sagte Doyle leise. »Aber Ihr seht, was sie wirklich wollen, ist das Gold.«

Und die bleiche Cecily gewann zum ersten Mal genaueren Einblick in den wahren Charakter von König Heinrich VIII. und seiner Anhänger – sie waren weniger Ketzer als vielmehr ganz gemeine Diebe.

»Der König ist gekommen, um Irland auszuräubern«, schrie sie den Beamten an. Doch der lachte nur.

Im selben Augenblick öffnete sein Kumpan eine andere Silberkassette. Diese hatte sich leicht öffnen lassen, denn darin befand sich eine kleinere, geschwärzte Schatulle.

»Was ist das?«, fragte Doyle.

»Der Finger von Sankt Kevin von Glendalough«, antwortete der Beamte.

»Gebt sie mir«, sagte Doyle und zeigte dabei auf die schwarze Schatulle.

»Es ist ein Edelstein darauf«, warf der andere Beamte ein und griff nach seinem Meißel.

»Genug!«, sagte Doyle mit solch bestimmender Autorität, dass der Beamte sie ihm rasch aushändigte.

»Mehr kann ich für Euch nicht tun, Ratsherr«, sagte er ein wenig gereizt.

Doyle hielt die kleine Reliquie in der Hand und betrachtete sie voll Ehrfurcht.

»Der heilige Kevin«, sagte er leise. »Es heißt, es habe eine große Kraft.«

»Werdet Ihr es sicher verwahren?«, fragte Cecily ängstlich.

Doyle hielt inne, ehe er antwortete. Mit seinem dunklen Gesicht schien er über etwas in weiter Ferne nachzusinnen. Dann drehte er sich zu ihrem großen Erstaunen zu ihr um, schaute auf sie hinunter und legte ihr die kleine Reliquie in die Hand.

»Nein«, sagte er. »Ihr werdet das tun. Ich kenne niemanden in Dublin, der besser darauf aufpassen würde. Geht nun schnell und versteckt sie.«

Cecily hatte die Straße überquert und war kurz stehen geblieben, um ein letztes Mal einen Blick auf das große Feuer zu werfen, als sie MacGowan kommen sah.

Doyle und Richard Walsh begrüßten ihn. Sie sah MacGowan in die Flammen starren. Dann gestikulierte er in Richtung der Kathedrale. Und nun sah sie, wie Doyle und Richard sich zu ihm vorbeugten. MacGowan schien ihnen mit Dringlichkeit etwas zu sagen.

Und genau in diesem Augenblick nahm ein Soldat einen gelblichen alten Totenschädel hoch, riss den Goldreif ab und schleuderte ihn in die Flammen.

* * *

Zwei Stunden später verbreitete sich die Nachricht in ganz Dublin. Anfangs waren die Menschen so schockiert, dass sie sie kaum glauben konnten, doch gegen Abend bestanden keine Zweifel mehr.

Die Bachall Iosa, die heiligste, größte Ehrfurcht einflößende Reliquie von ganz Irland – der große, über und über mit Edelsteinen besetzte Reliquienschrein des Bischofsstabs von Sankt Patrick –, existierte nicht mehr.

Einige sagten, er sei vor der Christ–Church–Kathedrale in die Flammen geworfen worden. Andere meinten, der alte Stab sei in einem anderen Feuer verbrannt. Angesichts des Schreckensgeschreis bestritt Erzbischof Browne, dass der heilige Stab überhaupt für die Vernichtung ausgewählt worden sei; doch als die Menschen, Engländer und Iren, im Pale und außerhalb davon die Missachtung des Erzbischofs für alles, was sie schätzten, bedachten und das Gold und die Edelsteine, mit denen die Bachall Iosa ausgestattet war, hatten sie nicht den geringsten Anlass, ihm zu glauben.

Tatsächlich wurde in den folgenden Jahren der Stab des Sankt Patrick niemals mehr gesehen.

Zwar behaupteten einige Dubliner, dass er mit anderen Reliquien an einen sicheren Ort geschafft worden sei, doch etwas Genaues wusste niemand. Auch die Ratsherren nicht, nicht einmal Doyle. Und falls, was sehr unwahrscheinlich ist, MacGowan etwas wusste, so schwieg er wie immer wie ein Grab.